AUGENKLAVIATUR

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AUGENKLAVIATUR

“Eine wirklich neue Kunst wäre wie ein neues Sinnesorgan. ... ein rhythmisches Gebilde, das optisch erlebt wird und doch nicht sichtbar ist.” (Béla Balázs)

Monokular

Als 1740 Louis-Bertrand Castel sein „L’Optique des Couleurs“ — deutscher Titel: „Das Augenklavier“ — veröffentlichte, formulierte er die Idee, mittels eines Apparates optische Reize auszulösen, um Musik empfindbar machen zu können. Ob dies jemals in die Tat umgesetzt wurde, ist (obwohl sich sowohl der Komponist Georg Philipp Telemann als auch der Philosoph Jean-Jacques Rousseau dahingehend äußerten) offen. (1) Zu dem Zeitpunkt jedoch, als der erste Film es schaffte, sich vom bloßen Abbilden-Wollen eines vor der Linse zentral und theatral angelegten Ereignisses zu emanzipieren, als die Kamera nicht mehr nur Prothese für das Auge war, zu diesem Zeitpunkt war jener Apparat tatsächlich erschaffen, der Bilder zu erzeugen vermochte, die das Publikum durch die Luft fliegen ließen, ihm Ebenen der Sinnlichkeit zugänglich machen konnte, die der Musik oder der Malerei in vielem ähnlich sind und doch weit darüber hinaus gehen. Guter Film ist in der Lage, neben seiner Narration auf einer Klaviatur des Optischen Empfindung hervorzubringen, die nicht nur im surprise dröhnen.

Wo die Träume Jagd auf Bilder machen

Der Filmstreifen weist ideel über Titel und Fin hinaus. Er ist mehr als die materielle Form eines zeitlichen Verlaufs zwischen dem Öffnen und Schließen des Vorhangs.
Technisch gesehen muß der Film — um Bildhaft werden zu können — als mehrfacher Spannungsbogen durch den Projektionsapparat geführt, durch Zahnrollen gleichmäßig aber ruckartig bewegt, durch eine Blende mehrfach seines Bildes beraubt, nämlich verdeckt werden. Diese Film-Linie wird dadurch rhythmisch zu Vor-Bildern zergliedert, in noch unsehbare Einheiten zerlegt, wird mit über 200-facher Schwingung durchleuchtet, um dann die Retina, den Ort des Übergangs des optischen Reizes in unser Gehirn, damit die biologische Grenze zum Betrachter zu erreichen, zu durchdringen und als Nachbild „gesehen“ zu werden, als Geschichte in unserem Kopf zu „klingen“.
Hier werden die 24 (ganz für sich gesehen reglosen) Kader der Sekunde zur Bewegung. Auf dem Ausspruch Godards, Film wäre Wahrheit — 24-mal in der Sekunde (2), bezogen, ist also eigentlich wahr, was wir nicht sehen und wird erst wirklich, wenn wir uns von seinem Widerklang ein Bild machen. (3)
So wie eine Linie die Grenzziehung zwischen zwei Bereichen beschreiben kann, beschreibt der Film die Grenze zwischen uns und einer Geschichte. Der Film stellt im übertragenen Sinn eine Haut auf der diese Geschichte eingeschrieben ist (4), dar, eine Membran, die jenen gedanklichen Raum umschließt, in dem die Träume Jagd auf Bilder machen. Wir Betrachter verfügen nun über ein Instrument, auf dessen Klaviatur dieser Film seinen Rhythmus übertragen kann. Wir Sehenden können uns in den Resonanzraum wandeln, in dem das Zusammenklingen unseres eigenen mit dem filmischen Rhythmus das Ereignis des Erlebens schafft. Unsere Neugier, unser Interesse, unsere Wahrnehmung versetzt uns inter-est (5), in das Zwischen-Sein der Geschichten.

Wir sehen nicht nur, sondern spüren, wir wären in der Geschichte. Es ist der Rhythmus des Films, es sind die Schnitte, die Kameraeinstellungen, das ungestörte Verweilen des Blicks und das Eintauchen durch den Sog des Bildes, durch das Vergehen der Zeit.
Film schafft im Kino, in dieser black box, dieser camera obscura des Träumens einen atmosphärischen Raum, der uns — anders als im white cube einer Galerie (oder vor dem häuslichen flat screen) — gänzlich eintauchen und versinken lassen kann. Es sind die Klänge der Bilder, die uns den Zugang zu den Geschichten ermöglichen.

Und natürlich nimmt es nicht Wunder, daß immer wieder auch das Musikalische selbst als Gegenstand der Erzählung in diesem Programm präsent sein wird. Denn das Vergnügen ist so vielgestaltig wie die Rhythmen es sind!

Sven Wörner / Cinémathèque Leipzig
  1. Dieter Daniels: Louis-Bertrand Castel „Augenklavier“ 
  2. Jean-Luc Godard: „Der kleine Soldat“ (Frankreich 1963)
  3. Hier sei ein gedanklicher Seitensprung in Richtung der Bilderverbote und der damit verknüpften Dogmen diverser Weltanschauungen angeregt.
  4. „Das Wort Film leitet sich ab vom angelsächsischen Felmen, das die Haut auf abgekochter Milch bezeichnet. Retina ist eine Kamera-Reihe der Firma Kodak. So wie sich unser Sehen über das Licht auf der Netzhaut (Retina) abbildet und als Reiz im Gehirn ein Bild erzeugt, so schreibt sich (z.B.) beim Tätowieren erlebtes in die Haut seines Trägers ein und wird für andere als Geschichte sichtbar. Der Tätowierte selbst wird zur Inkarnation der Erzählung. Sein Hautbild repräsentiert die zeitliche Reflexion und der Vorgang des Einzeichnens den Reiz auf der Netzhaut, die Haut wird zur Bühne. Die Epidermis wird zur künstlichen Retina, zum Spiegel, der alle Reflexe bewahrt.(Eine Aufzeichnung, deren Wiederbetrachten) sowohl Selbstkonstruktion und (geschichtliche) Selbstverortung als auch Beweis des Erlebten und somit Teil eines individuellen und kollektiven Gedächtniskanons (darstellt): aufgezeichnetes Leben.“ (Sven Wörner „frontier #8 tattoo / recorded life“)
  5. siehe Peter Kubelkas Vorlesung „Film als Ereignis, Film als Sprache, Denken als Film“

EXPANDER ( Zum Programm )

Die Grenzen der Erzählung sind unscharf. EXPANDER verläßt die Ebene der Metapher. Es geht nicht mehr um Übertragung oder Abbildung — zumindest nicht im Sinne direkter Lesbarkeit. Die Erzählung verweist nicht mehr auf eine vermeintlich reale Welt als Hintergrund des Erlebens. Damit ändert sich der Zerstreuungscharakter des Films hin zur Konzentration. Das Ereignis verlagert sich von der Leinwand ins Innere des Betrachters.

Zentralperspektive

In der Institution Kino ist der Betrachter gemeinhin gefangen in der monokularen Zentralperspektive passiver Unterhaltung. Gebannt und entmündigt starrt er auf das vorbeiziehende Panorama der Ereignisse. Er huldigt damit im Filmbild unbewußt aber unterwürfig dem Portrait des Souveräns (1).
Das Heraustreten aus dieser festgefügten Hierarchie des Entertainments gleicht oft einem Schock. Die Orientierungshilfen erlernter Bildübersetzung erweisen sich als wenig hilfreich bei der Aufgabe, als nunmehr zweiäugiges Wesen und Teil der Geschichte in das Abenteuer des Selbst zu treten. Mit dem Auftreten des emanzipierten Zuschauers wird die Leinwand also auf irritierende Weise verdoppelt.

Weiße Leinwand

„’Es ist der Rhythmus, der dem kinematographischen Werk Ordnung und Proportion verleiht’, ihm [...] über die bloße Verkettung der Bilder hinaus die Möglichkeit eröffnet, durch Dauer, Intensität und Ausdruck zum kinematographischen Poem zu werden. [...] So teile der Film den unbestimmten Charakter der Musik, deren Aussage wir nicht kennen, um doch ihrer Wirkung teilhaftig zu werden.“ (2)
Bedingt durch unsere am filmischen mainstream orientierten Sehgewohnheiten ist im Kino das Auge für den Rhythmus weniger sensibel als das Ohr. Dabei ist schon in seinen sehr experimentierfreudigen Kinderschuhen die, teilweise wörtlich zu verstehende, „Musikalität“ der Bilder Thema vieler Filmproduktionen. Mittlerweile einem breiteren Publikum bekannte — und erfreulicherweise auf DVD erhältliche — Arbeiten wie Viktor Eggelings „Symphonie diagonale“ (1924), die „Filmstudien“ von Oskar Fischinger (1929 die erste noch stumm und bis 1933 alle weiteren zwölf mit Ton versehen), die „Rhythmus-Filme“ von Hans Richter (1921-25) oder die wunderschönen Arbeiten von Len Lye, der ohne Kamera direkt auf dem Film arbeitete, mögen als Beispiele hierfür stehen.
Waren einige dieser Arbeiten sehr darin verhaftet, weniger Bewegung zu sein als sie vielmehr abzubilden, verstanden sich andere eher als Malerei mit Licht. Diesen ist schon das Bewußtsein der Zeitlichkeit des Filmischen eigen. Das Verstreichen von Zeit, die Empfindung der Dauer als Teil des Ereignisses, ist es, die Film potentiell eine emphatische Unendlichkeit erreichen lassen kann, ganz so, wie wir es bei Musik zu wahrzunehmen in der Lage sind.

Bildzerstäuber

Der Begriff des Rhythmus kann dabei sehr weit gefasst werden. Jeder, die Einzelbilder des Filmstreifens trennende, Bildstrich ist rhythmische Ursache. Jede Spur der Projektion – Kratzer, Staubkörner, Koppelstellen – taucht als akustischer oder visueller Rhythmus in der Filmvorstellung auf bzw. kann selbst Gegenstand des Filmes sein (3). Auch die „Fehler“ digitaler Bildproduktion, Bildrauschen, Halbbilder usw., sind Elemente die sich zu einem Rhyhtmus zusammenfügen und kein halbes Jahrhundert nach Fluxus ist das Medium selbst erneut Gegenstand der Betrachtung. Hinzu kommen die narrativen Rhythmen: der Schnitt und damit die Dauer einer Einstellung und das Wechselspiel der Bildausschnitte, Schwenks und Kamerafahrten sowie der Zoom.
Nicht zuletzt bringt jeder Betrachter seinen eigenen Rhythmus ein: Atmung, Herzschlag, die innere Uhr, kürzlich Erlebtes etc. Dies alles wird zu einer dichten Komposition verschiedener und sich zum Teil überlagernder Strukturen verknüpft.
Diese Art struktureller Auflösung und Zerlegung — oftmals einhergehend mit einer Abwendung von vordefinierten oder nur schmalspurig lesbaren Erzählungen — auf ihre Spitze getrieben bewirkt, nach anfänglicher Irritation, ihrerseits eine Art Sog, der die Betrachter animieren kann, sich als Teilnehmer zu verstehen.

Mehrfachbelichtung

Die EXPANDER-Programme beleuchten dieses grundfilmische Mittel des Rhythmus, der Bildzerstäubung in einer Vielzahl von Facetten. Hierbei scheint es uns natürlich, Produktionen für die black box mit denen für den white cube vergleichend vorzustellen und ebenso Verwandtschaften zu Theater und Fotografie aufzuzeigen bzw. dem Rezipienten die eigene, innere “Projektionsebene” bewußt zu machen.

Sven Wörner / Cinémathèque Leipzig


  1. Über die dahingehende grundlegende Bemerkung zum Portrait in der Photographie hinaus ist Carl Schmitts Bemerkung zu Jacques Derrida, Souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide (Carl Schmitt „Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität“, Berlin 1990, S. 11), mehr als interessant. Denn, so Sigrid Weigel (in: S.W. „Der Märtyrer und der Souverän. Szenarien eines modernen Trauerspiels, gelesen mit Walter Benjamin und Carl Schmitt“, in TRAJEKTE Nr. 8, Jg 4, April 2004): „Die Theorie der Souveränität, für die der Sonderfall mit der Entfaltung diktatorischer Instanzen exemplarisch wird, drängt geradezu auf, das Bild des Souveräns im Sinne des Tyrannen zu vollenden.“
  2. Barbara Naumann „ Rhythmus: Spuren eines Wechselspiels in Künsten und Wissenschaften“, Königshausen & Neumann, 2005, S. 228
  3. ein sehr radikales, gleichwohl unbedingt sehenswertes Beispiel ist Nam June Paiks „Zen for Film“ (USA 1962-64)